Anlass
meiner Irritation war ein Gottesdienst-Lied (mit einer
alten Übersetzung aus Genf):
Entgegen der Übersetzung (Tisch, den) „Feinde mir missgönnen“ (Vers
5) übersetze ich nämlich
lieber
traditionell mit „gegenüber meinen Feinden“.
(Ich gehe dabei von der Annahme aus, dass der masoretische Text hier
zuverlässig ist, d.h. keine gröberen Fehler oder Unsicherheiten
vorliegen, die noch diskutiert werden müssten, d.h. dass das Vokabular
soweit übernommen werden darf.)
Begründung für eine traditionelle Übersetzung:
Es gibt für die Übersetzung „gegenüber meinem Feind“ m.E.
drei Arten der Begründung:
A. Eine vokabularische, B. zwei stilistische und C. eine strukturelle.
A. Vokabularische Begründung, nach dem
Wörterbuch:
nägäd heisst nicht „Neid“ sondern „gegenüber“
B. Zwei stilistische Begründungen:
- „Der Feind sei neidisch“ stellt eine willkürliche
Einengung der Bedeutung dar, die dem Originaltext nicht gerecht wird.
Der Text lässt (a) die Fragen offen, ob mit dem Feind eine allgemeine
Widrigkeit oder ein Mensch gemeint sei; und wenn ein Mensch, so lässt
(b) die Formulierung des Psalmes das Befinden dieses Feindes offen. Der
hebräische Originaltext überlässt es dem Leser, die Wendung „gegenüber
dem Feind“ mit eigener Erfahrung zu füllen.
- Handelnde Personen sind im ganzen Psalm nur Gott und der Beter (der
Beter handelt ak-tiv nur 2 Mal: „Gehen“ und „sich
niederlassen“).
Es müsste daher gut begründet werden, weshalb der Feind auf
einmal als implizites Handlungssubjekt auftritt. Doch ohne eine solche
Begründung ist der „Neid des Feindes“ ein argumentum
e silentio.
Die Behauptung, der Feind sei missgünstig, setzt voraus, dass die
Emotion des Feindes interessant und daher im Fokus sei. Dies könnte
sich allenfalls aus dem historischen Umfeld ergeben, falls es denn z.B.
eine Sitte gab, auch in Israel, was aber unwahrscheinlich ist, vor den
Augen des (besiegten) Feindes ein triumphierendes Festmahl zu halten
um diesen zu demütigen. Das zumindest müsste man schon zeigen.
C. Strukturelle Begründung:
Eine weitere Begründung ergibt sich aus der Struktur des 23. Psalmes,
die ich aus diesem Grund aufgezeichnet habe, denn aus dem Platz, der
in
der Komposition des Psalm 23 einnimmt, lassen sich Schlüsse
bezüglich der Bedeutung der Worte ziehen.
Die Struktur des Psalms zeigt einen geordneten, durchkomponierten Aufbau
mit Symmetrien und Entsprechungen. Es lässt sich z.B. thematisch
eine Dreiteilung erkennen, die im hebräischen Text mit drei Mal
drei Zeilen korreliert. Die drei Blöcke sind zudem je am An-fang
und am Ende durch ein „Stichwort“ markiert und eingeklammert,
ein Stichwort, welches das Leitthema je zusammenfasst (im hebräischen
Text gelb, grau und grün markiert).
Block 1: Zeile 1-3
Gott der Hirte.
Block 1 geht von „Gott“ bis „sein Name“. Diese
sind Thema und Eckpunkte.
Hier wird exemplarisch aufgerollt, was Gott tut. Gott wird in der 3.
Person genannt.
Block 2:
Zeile 4-6
Krise, hervorgerufen durch Anfechtung.
Block 2 geht von „Und ob ich schon wanderte im finsteren
Tal“ bis „gegenüber dem Feind“. Diese
sind hier Thema und Eckpunkte.
Die Krise zieht sich über drei Zeilen hin:
Hineingehen in die Krise, Höhepunkt und Auflösung der
Krise.
Die Zeile 5 befindet sich sowohl in der Mitte der Krise als auch
in der Mitte des Psalms.
Hier, auf dem Höhepunkt, findet der Beter auf einmal das Du
gegenüber seinem Gott. Er begegnet ihm mitten in der Bedrängnis.
Darum herum gruppieren sich die Worte „Ob ich schon wanderte
im finsteren Tal“ und die Situation „gegenüber
dem Feind“ und stehen einander so parallel zugeordnet.
Daraus lassen sich 2 weitere Schlüsse ziehen:
Dieser thematische Parallele kann homonym oder
antithetisch sein.
Homonym: Zuerst das Wandern in Finsternis und
dann, zu allem Überfluss,
noch der Feind vor der Nase! Im Sinn von: Ein Unglück kommt
selten allein. Der Feind als Bedrohung.
Antithetisch: Zuerst das Wandern in Finsternis - dann aber
Position der Stärke gegenüber dem Feind. Der Feind ist da, gegenüber,
aber Gott richtet meinen Tisch her.
Auch hier ist der Psalm offen nach beiden Seiten.
Ich wähle, aus Gründen, die im letzten Teil thematisiert
sind, die antithetische Parallele:
Position der Stärke gegenüber dem Feind.
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Block
3:
Einsetzung in ein Amt
Block 3 geht von „Du salbst mein Haupt mit Öl“ bis die „Länge
der Tage“. Hier gelangt der Beter auf einmal zu Würde und
Belohnung. Die Salbung beinhaltet meistens ein Amt mit königlicher
oder priesterlicher / prophetischer Befugnis oder richterlicher Gewalt.
Der Beter ist durch die Erfahrung „im dunklen Tal“ mit den
Schattenseiten des Lebens bekannt geworden und nun in der Lage, sogar „einem
Feind gegenüber“ am Tisch zu sitzen und Wohnung zu nehmen
im Hause Gottes.
In diesem Lichte, bekommt der Mittelteil die Bedeutung: Der Beter wurde
geprüft in Gefahr und wird gewappnet gegenüber dem Feind. Es
geht in diesem Zusammenhang um ihn und seinen Fortschritt im Lebenswandel,
und nicht um die eher zufälligen Gefühle des Feindes.
Fazit:
Ich bleibe darum, in wörtlicher Übertragung, bei der Übersetzung „gegenüber
meinem Feind“.
Schlusshypothese (eigentlich ein Zufallsbefund):
Ich vermute, es handle sich bei Psalm 23 nicht um eine „Rokokoidylle“,
sondern um ein (sog. weisheitliches?) Lehrgedicht der Hebräer,
das in folgende drei Teile gegliedert ist:
1.
Lehrjahre: Studium der Thora.
Eine Entsprechung bietet Psalm 1: Die Thora murmeln Tag und Nacht – und
dabei ein Baum werden an Wasserbächen. Der „rechte Pfad“ (Ps
23,3) wäre somit die „Halacha“.
(Eine Entsprechung im NT ist z.B. beim zwölfjährigen Jesus
im Tempel zu finden).
2. Wanderjahre: In den Wechselfällen des Lebens
geprüft werden.
In Gefahr und gegenüber Feinden (der Lehre?) wird der Beter geeicht
und erfährt dabei Gottes Hilfe individuell.
(Es gibt im Judentum bis heute den „Schulchan aruch“, so
geschrieben, den „gedeckten Tisch“, der eine Sammlung von
praktischen Lebensregeln enthält. – Eine Entsprechung in der
Biographie Jesu findet sich nicht; Lehrjahre fanden aber zweifellos statt
in der Zeit, die zwischen dem zwölften Jahr Jesu und seinem öffentlichen
Auftreten liegt.)
3. Sich niederlassen: Eine Verantwortung übernehmen.
Gutes und Gnade folgen nach, weil der Beamtete seinen Dienst recht versieht.
Wem das Gute und die Gnade gelten, steht nicht, doch es ist anzunehmen,
dass ein solcher König, Priester oder Richter, Segen für sich
und für andere nach sich zieht.
(„Sich niederlassen“ (auch in Ps 1,1) hat eine wörtlich
Entsprechung in Mt 5,1: Nachdem er den Berg erklommen hatte, setzte er
sich / /
liess er sich nieder (er war aber noch nicht gesalbt, erst getauft)
und lehrt; sowie in Mt 26,64 „sitzen / /
zur Rechten der Macht“; wodurch auch der „überfliessende
Becher“ im Licht des NT eine neue Bedeutungs-Offenheit und Ambivalenz
erhalten könnte.)
Hierbei gilt:
Der Seitenblick auf ein Stück Rezeptionsgeschichte,
wie sie uns das Neue Testament liefert, bedeutet nicht eine unsinnige
Deutung des Psalms von Rückwärts her; dieser Blick rechnet
lediglich damit, dass Traditionen so langlebig sein können, dass
Rückschlüsse auf frühere Rezeptionen oder sogar auf einige
Absichten des Verfassers legitim sind.
Und:
Der Grund, weshalb ich der Struktur soviel Bedeutung
beimesse, ist das spielerische Element, das die Dichter und Musikanten
aller Zeiten und Orte miteinander verbindet, als ureigenste Fähigkeit
und Freiheit, die ihnen kaum jemand wegnimmt. Die Priester und Beamten
oder das Publikum mögen zwar befehlen, was inhaltlich zu verstehen
sei. Durch eine sorgfältig komponierte Form konnten die Dichter
aber wohl immer ihre eigenen Masstäbe hineintragen und die Botschaft
sichern. Die Struktur verrät daher viel über die ursprüngliche
Absicht einer Dichtung, gerade auch im Hebräischen.
Vielleicht wird die Hypothese irgendwo auf ähnliche Weise vertreten,
andernfalls, wenn nicht ganz unsinnig, müsste man die Vermutung
mit den gängigen theologischen Mitteln untermauern.
Rosmarie Köhler, 31. Mai 2013
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